Das ganz normale Grauen – Seite 1

Dieses Städtchen könnte überall in der ostdeutschen Provinz zu finden sein. Straßen und Fassaden sind in einem auffällig guten Zustand und erstrahlen im "Glanz der Gründerjahre". Nur die verlotterten Randgebiete erinnern noch an den Realsozialismus. Guldenberg heißt die titelgebende Kleinstadt, die Christoph Hein auch schon in früheren Romanen zum Schauplatz seiner Geschichten gemacht hat. In Landnahme (2004) erzählte er vom schlesischen Vertriebenen Bernhard Haber, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Guldenberg umgesiedelt wurde und sich gegen missgünstige Einheimische durchsetzen musste.

Auch Jahrzehnte später haben sich die Verhältnisse in Guldenberg nicht wesentlich geändert. Das politische System ist zwar ein anderes, aber Korruption und Niedertracht prägen noch immer die Gesellschaft. Hinter den Fassaden waltet die kleinbürgerliche Gier. Das Kaff hat sich in seiner grauenvollen Normalität zu einem gesamtdeutschen Symbolort entwickelt, in dem der Autor die Wiederkehr des Immergleichen als grotesken Niedergang erzählt. Es ist kein Zufall, dass die Figuren in Guldenberg auftreten, als kämen sie aus einem der bitterbösen Wirtschafswunderfilme von Rainer Werner Fassbinder.

Da ist Walter Lichtenberger, der seine Baufirma in die Pleite führte und nun als korrupter Dezernent für Stadtentwicklung arbeitet. Der Großkotzunternehmer Stefan Haubrich-Becker ist nicht nur Hersteller eines Lastendreirads namens Töffli, er hat sich auch im Naturschutzgebiet eine Villa gesetzt, nachdem die Stadt ihm verwehrt hatte, einen Prachtbau im historischen Zentrum zu übernehmen. Darin sollen nun Konzerte stattfinden, wobei das mittelmäßig ambitionierte Musikprogramm wiederum von den Unternehmen der Stadt bezahlt werden soll, was ein paar schmutzige Deals zur Folge hat. Es entstehen wildeste Gerüchte, die Stimmung ist dementsprechend angespannt. Auch in der Kirchengemeinde herrscht Unfrieden, weil der Pfarrer es gewagt hat, die nach Guldenberg verfrachteten Flüchtlinge zu unterstützen. Von Nächstenliebe wollen einige Christenmenschen wenig wissen, stattdessen unterstellen sie dem Geistlichen, er wolle die Kirche in eine Moschee verwandeln.

Im Alten Segelheim, einem zweistöckigen Haus am Stadtrand, leben junge Syrer und Afghanen auf engem Raum. Marikke Brummig arbeitet in der Flüchtlingshilfe, was in Guldenberg offenbar genügt, um ihr die Autoreifen zu durchstechen. Karim, Adil, Hakim und Enis wird sogar unterstellt, sie hätten eine junge Frau vergewaltigt.

Die Sprache ist nicht schön

Die Biografien der Guldenberger sind von Hein so angelegt, dass Aufstieg und Niedergang sehr eng beieinanderliegen. Manche haben Job und Frau verloren wie Fred Krausnick, der den eigenen Frust nun auf die Fremden projiziert. Weil aber in Guldenberg nicht alle dem Hass verfallen sind, brüllt der Kerl zuweilen: "Vaterlandsverräter". Wenn ihm Paroli geboten wird, stammelt er in endlosen Wiederholungsschleifen: "Mehr sage ich nicht." Christoph Hein ist kein Moralist, eher ein Chronist der deutschen Krise, und so überlässt er es seinen Protagonisten, sich zu zerlegen.

Guldenberg ist ein Dialogroman. Wer den Menschen und ihren Abgründen näherkommen möchte, muss hören, was sie sagen. Die gesprochene Sprache ist alles andere als schön. Rassisten reden eben rassistisch. In diesem Buch gibt es viele N- und Z-Worte zu lesen. Jugendliche aus Syrien werden hier selbst von einem Mann in Uniform schon mal "Zigeuner" genannt. Der Bürgermeister Kötteritz muss daher den Polizeiobermeister aufklären: "Unsere Migranten sind keine Sinti oder Roma." Doch der Gescholtene verweist auf die Sprache seiner Freunde, die er eben auch spreche.

Christoph Hein beschreibt in Guldenberg einen Alltag, der von rassistischer Hetze und technokratischen Begriffen gleichermaßen geprägt ist. Wenn sich die Stadträte mal für etwas interessieren, dann ist von "Bemühungszusagen" und "Erschließungsplänen" die Rede, während die Wutbürger vom "Ausverkauf" des Landes durch "Staatsverbrecher" fantasieren, die "unsere Kultur zerstören wollen". Manchmal klingen die Tiraden, als hätte Hein ein Aufnahmegerät in einer ostdeutschen Kneipe mitlaufen lassen.

Hein ist ein historisch-realistischer Erzähler, der seine literarischen Mittel zurückhaltend einsetzt. Doch wer die drei letzten Romane des unermüdlichen Schreibarbeiters vergleicht, erkennt das breitgefächerte Repertoire des oft als spröde geltenden Autors: In Glückskind mit Vater (2016) konzentriert sich Hein auf die irrational-rationalen Fluchtversuche von Konstantin Boggosch, der vor dem Mauerbau aus der DDR nach Südfrankreich flieht, um in die Fremdenlegion einzutreten, dann im Süden als Antiquar arbeitet und nach dem Mauerbau wieder in seine alte Heimat als Lehrer zurückkehrt, um sich mit der sozialistischen Schulbürokratie herumzuschlagen.

Halunken und Verlierertypen

Trutz (2017) war abermals ein großes Geschichtspanorama. Es berichtete mit beängstigender Genauigkeit vom Überleben im stalinistischen Gulag und einem ausgeklügelten Gedächtnistraining, das alle politische Manipulation unterläuft. Auch der Reiz der völlig unmodischen Prosa von Christoph Hein besteht in dieser nahezu sachlich anmutenden Erinnerungsarbeit. Dieser Schriftsteller hat sich in der Spätphase seines literarischen Schaffens zu einem Gedächtniskünstler entwickelt, der die Konflikte der Gegenwart mit den fatalen Brüchen des 20. Jahrhunderts zu verbinden versucht. In Verwirrnis (2018) schlägt Hein eher sanfte, musikalische und auch intellektuelle Töne an, erzählt vom schwulen Leben in der DDR und von der Freiheit, die Grenzen der eigenen Befreiung festzulegen.

Wenn man sich die Biografie Christoph Heins anschaut, bekommt man eine Ahnung, warum dieser Schriftsteller nicht nur von regressiven Charakteren, sondern ebenso von Menschen erzählt, die sich und ihre Umgebung verändern wollen. Auch Hein schaut auf ein bewegtes Leben zurück: Geboren 1944 im damals niederschlesischen Heinzendorf, aufgewachsen in der Kleinstadt Bad Düben in der Nähe von Leipzig. Und vermutlich gibt es einige, aber vermutlich nicht zu deutliche Parallelen zwischen dem heimatlichen Kurort und dem fiktiven Guldenberg. Christoph Hein war Sohn eines selbstbewussten Pfarrers, was in seinem Fall dazu führte, dass er keinen Platz an einer Oberschule bekam.

Also nutzte er die Freiheiten vor dem Mauerbau und ging auf ein Westberliner Gymnasium, kehrte aber wie sein Glückskind in den Osten zurück, verdingte sich dort als Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler und Regieassistent. Er machte Abitur an der Abendschule, studierte Philosophie und wurde Dramaturg an der Volksbühne in Ost-Berlin. Anfang der Achtzigerjahre erschien in der DDR die Novelle Der fremde Freund, die im Westen unter dem Titel Drachenblut herauskam und dort bald Schullektüre wurde. Nach der Wiedervereinigung veröffentlichte Hein zahlreiche Prosawerke und Theaterstücke. Er schrieb über den Niedergang in den neuen Bundesländern, die RAF und über den flirtenden Autohändler Willenbrock, der dann in der Darstellung von Axel Prahl im Kino zu bewundern war. Seine Romane wurden mit denen von Heinrich Böll verglichen, andere sahen ihn in der Tradition von Émile Zola. Der Autor selbst sagt, er verstehe sich vor allem als Dramatiker, die Prosa sei nur eine Fingerübung.

Guldenberg lässt sich tatsächlich auch als Theaterstück lesen. Mit ein paar Streichungen im umfangreichen Figurenensemble kann der Stoff leicht auf die Bühne gebracht werden. Zumal die Geschichte einer klassischen Eskalationsdramaturgie folgt: Während der Mob in Guldenberg die Asylbewerber zu vertreiben versucht, hat der Töffli-Produzent Haubrich-Becker ganz andere Probleme. Er hat seine Produktion mit den modernen E-Töfflis hochgefahren und sucht dringend Arbeitskräfte. Er würde, wenn es nicht anders ginge, auch Flüchtlinge einstellen. Haubrich-Becker setzt alles auf eine Karte, nämlich auf einen Großabnehmer der elektrifizierten Dreiräder, der sich leider als Krimineller entpuppt und mit der wertvollen Ware verschwindet.

Nach einem Brandanschlag auf das Alte Seglerheim werden die jungen Syrer schließlich verlegt, und auch die Frauen, die sich für die Flüchtlinge eingesetzt haben, werden Guldenberg in Richtung Berlin verlassen. Es bleiben Leute zurück, die zu alt sind, um zu gehen. Die beruflich an das Kaff gebunden sind. Darunter viele Verlierertypen, Dauernörgler und Halunken, die den Rechtsstaat für einen Selbstbedienungsladen halten und aus dem Kleinstadtmorast auch künftig noch Profit ziehen wollen. Der Roman ist auf bittere Weise aktuell und zeitlos. Guldenberg beschreibt provinzdeutsche Klassenverhältnisse, deren identitätsstiftendes Schmiermittel der Rassismus ist.

 Christoph Hein, "Guldenberg", Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 285 Seiten, 23 €.