Jurist: „Das Verbot der Palästina-Demos pervertiert Versammlungsfreiheit“

Die Berliner Demos anlässlich der palästinensischen Nakba und des Todes von Schirin Abu Akle wurden verboten. Unser Autor sagt: Eine falsche Entwicklung.

Teilnehmer einer Demonstration verschiedener palästinensischer Gruppen gehen durch Neukölln. Zum jährlichen Gedenktag Nakba erinnern Palästinenser an die Flucht und Vertreibung von Hunderttausenden Palästinensern aus dem Gebiet des späteren Israel.
Teilnehmer einer Demonstration verschiedener palästinensischer Gruppen gehen durch Neukölln. Zum jährlichen Gedenktag Nakba erinnern Palästinenser an die Flucht und Vertreibung von Hunderttausenden Palästinensern aus dem Gebiet des späteren Israel.dpa

Vor einigen Tagen starb die bekannte Al-Jazeera-Journalistin Schirin Abu Akle in Jenin im Westjordanland an einem Kopfschuss. Augenzeugen beschuldigen das israelische Militär, die Journalistin gezielt erschossen zu haben. Ihr Begräbnis wurde daraufhin zum Spektakel: Videos im Internet zeigen, wie israelische Polizisten das Begräbnis stürmen und auf die Träger des Sargs einschlagen. Dieser geht zwischenzeitlich zu Boden. Das ereignete sich nur wenige Tage vor dem Nakba-Tag, dem Tag der Erinnerung an die Flucht und Vertreibung der Palästinenser im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel und den kriegerischen Angriffen der Anrainerstaaten auf den neu gegründeten Staat.

Wie jedes Jahr werden weltweit Demonstrationen stattfinden, die an die Nakba erinnern, und in diesem Jahr wird auch der Tod Abu Akles Thema sein. Nicht allerdings in Berlin, zumindest nicht legal. Denn die Polizei hat gleich fünf angemeldete Demonstrationen untersagt. Das Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht haben die Verbote aufrechterhalten. Die Berliner Polizei erkennt durchaus an, dass Palästinenser verärgert sind. Sie meint, in der jetzigen angespannten Lage in Nahost sei „fortlaufend mit Vorfällen zu rechnen, die den Zorn hier lebender Palästinenser hervorrufen können.“

Erstaunlicherweise sieht sie aber genau in diesem Anlass für Demonstrationen zugleich einen Anlass für deren Verbot. Die Verbindung mit dem historischen „Nakba-Tag“, so die Polizei, dürfte im Zusammengang mit den aktuellen Ereignissen im Westjordanland, im Ostteil Jerusalems und dem Gazastreifen zu einer massiven Verstärkung der Emotionalisierung führen. Aber das ist ja genau der Anlass für die Demonstration. Wer nichts auszusetzen hat, demonstriert ja auch nicht.

Polizei muss nicht nur auf Palästina-Demos mit Unmut rechnen

Was ist also zu befürchten? Nach Ansicht der Polizei „belegen die Erfahrungen, dass zurzeit bei dieser Klientel eine deutlich aggressive Grundhaltung vorherrscht und man gewalttätigem Handeln nicht abgeneigt ist.“ Bei notwendigen polizeilichen Maßnahmen sei mithin mit Unmutsbekundungen und in der Folge tätlichen Angriffen zum Nachteil der eingesetzten Polizeikräfte, auch in Form von Pyrotechnik, Flaschen- und Steinwürfen zu rechnen.

Als Jurist liest man das und reibt sich ein wenig ungläubig die Augen. Denn Unmutsbekundungen muss die Polizei ja auch sonst ertragen. Flaschenwürfe auf Polizisten sind selbstverständlich zu verurteilen, wann immer sie vorkommen. Aber sie kommen häufig vor, ohne dass ihretwegen Demonstrationen verboten worden wären. Die Berliner Demonstrationen zum 1. Mai sind etwa seit Jahrzehnten regelmäßig mit Gewalt verbunden – auch diese ist zu verurteilen, aber zum Demonstrationsverbot haben sie meines Wissens noch nie geführt.

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Johanna Detering
Zur Person
Ralf Michaels ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Professor für globales Recht an der Queen Mary University London und Professor für Recht an der Universität Hamburg.

Das hat einen guten Grund. Wie das Bundesverfassungsgericht betont: Das Verbot und die Auflösung einer Versammlung kommen nur zur Abwehr von Gefahren elementarer Rechtsgüter in Betracht. Die Untersagung einer Versammlung kommt als Ultima Ratio nur dann in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen anders nicht verhindert werden können – durch Auflagen oder Selbstverpflichtung der Organisatoren, oder aber durch polizeiliche Maßnahmen. Es ist erstaunlich, dass man zu solchen milderen Mitteln in den Entscheidungen von Polizei und Gerichten fast nichts findet. Der Veranstalter, so betont die Polizei mehrfach, habe die Demonstranten selbst nicht im Griff gehabt. Aber selbst wenn das stimmte – ist das nicht eigentlich auch die Aufgabe der Polizei?

Geht es um die Gefahr der Demos oder um die „Klientel“?

Ein Verdacht drängt sich auf: Sollte der Verbotsgrund etwa darin liegen, dass „diese Klientel“ – ein eigenartiger Begriff – dem Staat besonders unangenehm ist? Die Polizei erwartet „Personen aus der arabischen Diaspora, insbesondere mit palästinensischem Hintergrund“, und weitere „muslimisch geprägte Personenkreise, vorzugsweise voraussichtlich aus der libanesischen, türkischen sowie syrischen Diaspora“. Stehen Muslime jetzt also unter Generalverdacht? Und was ist mit den jüdisch-israelischen Teilnehmern? Eine von einer jüdischen Organisation angemeldete Solidaritätsveranstaltung für Abu Akle wurde – als angebliche Ersatzveranstaltung – ebenfalls untersagt.

Oder liegt es nicht vielmehr am deutschen Bedürfnis, Kritik an Israel im Vornherein zu verhindern – damit nicht wieder, wie bereits im letzten Jahr, Vorwürfe laut werden, in Deutschland werde Antisemitismus erlaubt? Ein großer Teil der Begründung widmet sich der Erkenntnis, dass bei früheren Demonstrationen eine „hochgradig israelfeindliche bis in den Antisemitismus reichende Stimmung festgestellt“ worden sei. Zum Teil sei dabei das Existenzrecht Israels abgesprochen worden.

Das wäre, sofern es stimmt, tatsächlich verwerflich. Dennoch: Feindschaft gegen Israel und sogar Antisemitismus sind – so schwer erträglich sie auch angesichts der deutschen Geschichte sein mögen – von der Meinungsfreiheit gedeckt, soweit sie nicht strafbar sind. Insofern sind sie auch keine Grundlage für ein Versammlungsverbot. Der bayrische Verwaltungsgerichtshof sagt es ganz klar: „Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst auch extremistische, rassistische oder antisemitische Äußerungen; für gesetzliche Beschränkungen gelten insoweit dieselben Voraussetzungen wie bei allen sonstigen Meinungsbekundungen.“

Boykottaufrufe gegen Israel gehören zur Meinungsfreiheit

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erst kürzlich die Unterstützung der BDS-Bewegung unter den Schutz der Meinungsfreiheit gestellt. Insofern besonders bedenklich wirkt es, dass das Verwaltungsgericht sich auf die umstrittene BDS-Resolution des Bundestages aus dem Jahr 2019 bezieht, die vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestages selbst inhaltlich für in Teilen verfassungswidrig erklärt wurde und die mittlerweile selbst ihre Befürworter als bloße Meinungserklärung ohne rechtliche Bindung bezeichnen.

Dies ist nicht das erste Verbot einer propalästinensischen Demonstration. Es folgt auf ein gleichartiges Verbot vor zwei Wochen. Eine verhängnisvolle Entwicklung deutet sich hier an. Offenbar will die Berliner Polizei, mit Duldung der Gerichte, propalästinensische Demonstrationen so lange verbieten, bis Palästinenser nicht mehr „erheblich angespannt und emotionalisiert“ agieren.

Doch damit wird das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit pervertiert. Denn die Demonstrationsfreiheit dient ja ganz wesentlich gerade dazu, dass Menschen demonstrieren, weil sie angespannt und emotionalisiert sind. In letzter Konsequenz bedeutet die Entscheidung: So lange Israel Palästinensern Anlass gibt, erregt zu sein, wird ihnen das Recht auf Demonstration versagt. Demonstrieren dürfen sie also erst wieder, wenn sie sich beruhigt haben. Aber tragen Versammlungsverbote zur Beruhigung bei?

Marginalisierte Gruppen brauchen das Demonstrationsrecht

Die Demonstrationsfreiheit ist kein Privileg, das der Souverän nach Gutdünken verteilen kann. Sie gilt nicht nur für bestimmte Meinungen, sondern gerade auch für diejenigen, die nicht der deutschen Staatsräson entsprechen. Denn die bindet im liberalen Staat die Bevölkerung nicht. Man muss sich die Demonstrationsfreiheit nicht durch Wohlverhalten verdienen, und sie gilt auch – und insbesondere – für „emotionalisierte“ Demonstranten. Ihre Bedeutung hat sie vor allem für marginalisierte Gruppen, die ihre Interessen im politischen Prozess nur schwer durchsetzen können. Es ist schwer erträglich, Antisemitismus auf Demonstrationen zu erleben. Aber Gesellschaft und Rechtsstaat können das eher aushalten als die Beschneidung zentraler Freiheitsrechte.

Aber auch unterhalb der Schwelle der Verfassungswidrigkeit sollte letztlich die Frage erlaubt sein, was mit dieser Strategie eigentlich erreicht werden soll. Palästinensern dauerhaft elementare Freiheitsrechte zu nehmen, dürfte kaum zur Befriedung führen. Dem Schutz Israels nutzt es wohl kaum (nicht umsonst verbietet Israel solche Demonstrationen nicht). Ob es wirklich langfristig dem Schutz von Juden in Deutschland dient, die Grundrechte von Palästinensern zu beschränken, scheint ebenfalls zweifelhaft, eher ist wohl eine Eskalation zu befürchten. Selbst der Zentralrat der Juden in Deutschland, der die Verbote gutheißt, gibt zu bedenken, dass die beteiligten Akteure, Israel-Hetze und Antisemitismus durch ein Verbot nicht verschwinden.

Die Polizei schützt die Mehrheitsgesellschaft

Man wird den Verdacht nicht los: Geschützt werden neben der Polizei vor allem der deutsche Staat und die deutsche Mehrheitsgesellschaft, und zwar davor, sich mit Palästinensern und ihren Protesten auseinandersetzen zu müssen. Eine Demonstration im letzten Jahr hatte, so die Polizei, „durch aggressive ‚Allahu Akbar‘-Sprechchöre einen deutlich militanten Eindruck auf Außenstehende“. Dieses Jahr werden Außenstehende also vielleicht davor geschützt, dass jemand neben ihnen auf Arabisch „Gott ist groß“ ruft. Ist das ein Erfolg für den Rechtsstaat?

Es ist eine wichtige Lehre aus dem Nationalsozialismus, dass Antisemitismus entschlossen bekämpft und entgegengetreten werden muss. Es ist aber auch eine wichtige Lehre, dass Meinungs- und Versammlungsfreiheit zentral sind für einen demokratischen und liberalen Staat. Und dass man ihre systematische Beschränkung mit Argwohn sehen sollte. Im liberalen Staat muss der Kampf gegen den Antisemitismus in erster Linie ein gesellschaftlicher sein; der repressive Staat kann allenfalls ergänzend hinzukommen. Hoffentlich sieht man Letzteres bald auch wieder in Berlin.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Website Verfassungsblog: wwwverfassungsblog.de