Panorama

Klaus Stöhr im Interview "Die Krankheitslast koppelt sich völlig ab von der Inzidenz"

Der Epidemiologe Klaus Stöhr war viele Jahre Leiter des globalen Grippe-Programms und Sars-Forschungskoordinator der WHO.

Der Epidemiologe Klaus Stöhr war viele Jahre Leiter des globalen Grippe-Programms und Sars-Forschungskoordinator der WHO.

(Foto: imago images/teutopress)

Der Epidemiologe Klaus Stöhr stört sich seit Monaten am starren Blick auf den Inzidenzwert. Im Gespräch mit ntv.de erklärt er, warum er momentan keinen Handlungsbedarf sieht, die Corona-Maßnahmen auf die Gruppe der über 50-Jährigen fokussiert werden müssen und warum die Impfung von Kindern und Jugendlichen eher unbedeutend ist.

ntv.de: Die Inzidenz in Deutschland steigt langsam wieder. Politiker mahnen und blicken besorgt auf den Herbst …

Klaus Stöhr: Die Frage ist: Ist die Inzidenz eigentlich der richtige Entscheidungsparameter für Bekämpfungsmaßnahmen? Vor allem, wenn man die Inzidenz allein betrachtet? Gegenwärtig liegt die Inzidenz bei den über 60-Jährigen etwa bei 3. Das liegt weit unter dem, wo man irgendwelche Aktionen starten muss.

Aber die Inzidenz steigt.

Natürlich steigt sie. Bei den 20- und 30-Jährigen liegt sie bald bei 60, 70, 80. Aber warum soll man bei asymptomatischen oder leichten Erkrankungen, ohne einen nennenswerten Krankheitsverlauf, in einer Stadt nun die Geschäfte schließen bei zum Beispiel 100 Fällen auf 100.000 Einwohner. Das hilft ja nicht, die Krankheitslast zu reduzieren.

Was meinen Sie damit?

Nun, Pandemiebekämpung heißt, die Krankheitslast niedrig zu halten: Also primär die Krankenhäuser und die Friedhöfe sollen leer bleiben, ohne den Rest der Bevölkerung aus dem Auge zu verlieren. Das funktioniert jetzt mit der Impfung immer besser. Es werden sich zwar bis zum Pandemieende noch immer mehr junge Leute infizieren angesichts der Lockerungen der Maßnahmen und der Pandemiemüdigkeit. Aber durch die Impfung bei den am stärksten betroffenen Altersgruppen der über 50-Jährigen werden sich die schweren Verläufe und Todesfälle dramatisch reduzieren. Warum sollte also ein Anstieg der Meldeinzidenz ohne Krankheitslast dann dazu führen, dass man Geschäfte wieder schließt?

Würden Sie sagen, Deutschland muss sich überhaupt keine Sorgen machen, auch trotz des Rückgangs beim Impftempo?

Die Pandemie ist noch nicht zu Ende. Man müsste sich natürlich Sorgen machen, wenn bei den Ungeimpften der über 50- bis 60-Jährigen die Meldeinzidenz steigen würde. Das würde nachfolgend zu Hospitalisierungen und Todesfällen führen, gar keine Frage. Das sehen wir aber nicht. Allerdings steht der Herbst vor der Tür: Für die unweigerliche Erkältungswelle scheint es noch keinen Plan zu geben.

Also besteht derzeit kein Handlungsbedarf?

Gegenwärtig würde ich bei den weiterhin im Sinkflug befindlichen oder stabilen Sterberaten, beim abwesenden oder nur sehr geringen Zugang auf die Intensivstationen - was ja sehr gut ist -, da würde ich überhaupt gar keinen Grund sehen, jetzt dramatische Änderungen vorzunehmen.

Und wann müssen wir handeln?

Man muss sich auf den Herbst vorbereiten. Da wird die Infektionswelle wieder sehr stark zunehmen. Und andere Atmungserkrankungen kommen dann noch dazu: die Influenza und RSV waren zwei Jahre praktisch abwesend. Über 20, 30 Millionen junge Leute werden noch keine Sars-CoV-2 Immunität haben. Darauf muss man sich vorbereiten und jetzt den Plan auf den Tisch legen: Wie wird gegengesteuert, wenn wie erwartet die Inzidenz wieder ansteigt? Oder werden endlich weitere Parameter bei der Risikoeinschätzung mit einbezogen? Wird man dann endlich altersgruppenspezifische Maßnahmen ergreifen oder wieder im Gießkannenprinzip die unterschiedlichsten Risikogruppen mit den gleichen Maßnahmen bedenken? Es kann ja nicht sein, dass man dann alles macht wie 2020, als die über 60-Jährigen noch voll empfänglich waren. Vorhersagbar werden im Herbst vor allem viele junge Leute positiv getestet werden, die Krankenhäuser aber normal wie jeden Winter stark belastet sein, die Sars-CoV-2 Sterberaten aber niedrig bleiben - wenn die Impfrate dann hoffentlich hoch ist. Dann kann man ja nicht wieder mit Lockdown und Schließungen reagieren, irgendwann müssen wir ja zur Normalität zurück.

Welchen Einfluss hat das Impfen auf die Entwicklung der Infektionszahlen?

Die eigentliche Krankheitslast koppelt sich völlig ab von der Inzidenz …

Also Sie meinen, die Inzidenz sagt als alleiniger Parameter nichts mehr darüber aus, wie bedrohlich die Corona-Pandemie in Deutschland ist?

Genau. Und das ist ja auch das eigentliche Ziel der Impfung, dass man verhindern möchte, dass Personen, die besonders gefährdet sind, schwer erkranken oder sterben.

Die vulnerablen Gruppen, also vor allem die ältere Bevölkerung?

Ja. Bei den über 80- bis 90-Jährigen sterben bis zu 3 von 10 Infizierten. Die Krankheitswahrscheinlichkeit und Sterbewahrscheinlichkeit in den niederen Altersgruppen ist viel, viel geringer. Wenn jetzt die Impfung bei den über 50-Jährigen durch ist, dann würden ja schon 99 Prozent der Todesfälle verhindert werden.

99 Prozent?

Ja, klingt erstaunlich, ist aber ähnlich wie bei der saisonalen Influenza. Denn 99 Prozent der Sterbefälle treten bei den über 50-Jährigen auf. Sind diese alle doppelt geimpft, werden nahezu alle diese Todesfälle verhindert. Die über 65-Jährigen sollten sich aber auch noch eine Nachimpfung idealerweise im Oktober in Vorbereitung auf die Winterwelle holen.

Impfen sollten sich aber auch Jüngere?

Natürlich, vor allem aber diejenigen mit einer Vorerkrankung. Jeder muss die Erstinfektion irgendwie durchmachen, besser mit der Impfung. Es gibt ja nur die zwei Möglichkeiten: Infektion oder Impfung. Nach der Erstinfektion werden die Reinfektionen in den Folgejahren viel, viel milder verlaufen. Auch bei den Jugendlichen. Deshalb wird die STIKO ab dem nächsten Jahr die Impfung sehr wahrscheinlich auch nur für die über 60-Jährigen empfehlen.

Heißt das im Umkehrschluss, dass, wenn die Endemie beginnt, es für alle anderen, auch die Kinder, in Zukunft keine Impfempfehlung geben wird?

Davon gehe ich aus, es sei denn ein Impfstoff mit Nebenwirkungen, die geringer sind als das Risiko bei einer Infektion der Kinder, wird zugelassen. Falls nicht, werden sich alle als Kinder und Jugendliche erstinfizieren und dann alle paar Jahre den Immunschutz natürlich auffrischen. Wenn die Abwehrkräfte im Alter nachlassen, wird dann die Impfung empfohlen werden, so wie jetzt bei der Influenza. Es gibt eine tolle Studie der Uni Heidelberg, die letzte Woche veröffentlicht wurde, von Kindern. Da hat man gesehen, dass Kinder, selbst wenn sie sich infizieren, ohne nennenswerte Symptome zu haben, eine robuste Immunität aufbauen. Die auch gut anhält. Und dass Kinder auch viel seltener Erwachsene anstecken. Und vielmehr die Erwachsenen die Kinder infizieren.

Von der Debatte um Kinderimpfungen halten Sie also nicht sonderlich viel?

Die ganze Diskussion, man solle die Kinder jetzt impfen, da die Meldezahlen bei Kindern und Jugendlichen zunehmen, das alles geht am Thema vorbei. Den wissenschaftlichen Konsens dazu hat die STIKO für Deutschland geliefert. Der kann ja nicht von Einzelpersonen kommen, auch wenn sie sich lautstark und manchmal auch rüpelig politisch äußern. Gefühlt wird wieder wie im letzten Jahr mehr als 80 Prozent der Zeit über Kinder und Schulen gesprochen. Das wirkliche Thema sind die Alten, die Vulnerablen. Da muss man über die Herbstimpfung nachdenken. Die müssen geschützt sein. Und an diesem Maßstab, der Erkrankungsrate bei den Älteren, der Hospitalisierung-Quote und den Hospitalisierungszahlen, da sollte man die Bekämpfungsziele festmachen.

Wie bewerten Sie die Lage zum Beispiel in Israel oder Großbritannien, auch in den Niederlanden. Da gehen die Zahlen zurück, obwohl die Delta-Variante dort grassiert.

Nun, die Delta-Variante hat eine höhere Infektiosität. Das wird auch bei den nächsten Varianten so sein, da dürfen wir auch gar nicht die Augen vor schließen. Das Virus passt sich an den Menschen an. Es wird Varianten geben, weiterhin jedes Jahr viele Tausende.

Tausende klingt nicht gut.

Nicht erschrecken. Von den vielen Tausend Varianten wird es nur sehr wenige geben, die dann auch regional eine Bedeutung erlangen, und noch weniger, vielleicht nur eine jedes Jahr, die dann globale Bedeutung gewinnt. Die nimmt man in den Impfstoff mit rein.

Wie bei der jährlichen Influenza-Impfung?

Genau, wie bei der Influenza. Und wie bei der Influenza wird man dann auch bei Corona den über 65-Jährigen empfehlen, dass sie sich impfen lassen. Die jährliche Impfrate liegt bei der Influenza zwischen 20 und 40 Prozent, je nach Bundesland. Hier wäre mehr besser. Nun hat Delta natürlich eine höhere Infektiosität. Wir sehen aber auch, dass die Hospitalisierungsraten sich hier nicht in dramatische Richtungen entwickeln. Sicherlich, der Sars-CoV2-Impfstoff wird irgendwann nicht mehr so gut wirken, weil dann nach Delta die nächsten Varianten kommen, aber das System, wie man die Impfstoffe anpasst, wird ja etabliert. Da haben sich die großen Zulassungsbehörden, die Pharmaunternehmen und auch die WHO, die die Überwachung macht, schon geeinigt, wie sie das machen wollen.

Brauchen wir jetzt schon einen neuen, angepassten Impfstoff?

Nein, das sehe ich nicht. Nicht vor Anfang nächsten Jahres. Die Delta-Variante wird ja immer noch gut abgedeckt von den gegenwärtigen Impfstoffen.

Mit Klaus Stöhr sprachen Christopher Wittich und Tilman Aretz

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen