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Moskau - Das Foto des Todgeweihten erschien vielen als Abbild der Gnadenlosigkeit, mit der das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin seine erbitterten Gegner behandelt. Glatzköpfig, mit hohlen Wangen und halb geschlossenen Augen lag Alexander Litwinenko auf seinem Londoner Krankenbett. Alphastrahlen zerstörten das Knochenmark und schädigten Immun- und Nervensystem, bis am vergangenen Donnerstag das Herz versagte. Radioaktives Polonium-210 hat den abtrünnigen Agenten des russischen Geheimdienstes FSB als Tschernobyl auf zwei Beinen, wie es ein Freund Litwinenkos nannte, getötet.

Verschwörungstheorien über die Rache am FSB-Verräter, den Kampf oppositioneller Kreml-Fraktionen oder hoher Geheimdienstmitarbeiter gegen Putin machen in London die Runde. Es wirkt wie die Rückkehr des Kalten Krieges mit vergifteten Regenschirmspitzen. Für Litwinenko stand der Täter fest: In seinem Abschiedsbrief hat er Putin für seinen Tod beschuldigt. Es ist Ihnen gelungen, einen Menschen stumm zu machen, soll Litwinenko auf dem Krankenbett sein Wort an den russischen Präsidenten diktiert haben. Aber das Protestgeheul aus der Welt wird in Ihren Ohren für den Rest Ihres Lebens klingen.

Der 43-jährige Litwinenko hat wie einige andere Russen, die auch nicht mehr am Leben sind, die Grundfesten des Putinschen Regimes infrage gestellt. Sein Tod verweist darauf, wie führende Oppositionelle in Russland seit langem isoliert, bedroht und ermordet werden. Seit Juli dürfen die Geheimdienste mit Erlaubnis des Präsidenten auch im Ausland Terroristen jagen. Gegen einen mörderischen Staatsauftrag aus Russland spricht allerdings, dass der langsame Tod Litwinenkos vor allem dem Kreml schadet. Die Zeitung Iswestija verbreitete sogar die Theorie, der Todesfall sei Teil einer antirussischen Propagandaverschwörung.

Moskaus Ansehen im Westen hatte sich bereits durch den Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober verdunkelt. Da bei spektakulären Auftragsmorden in Russland selten die Täter und fast nie die Auftraggeber ermittelt werden, ruhen die Hoffnungen auf die Wahrheit jetzt bei Scotland Yard. An sieben Orten, die Litwinenko zuletzt aufgesucht hatte, entdeckte die Polizei Spuren von Polonium-210. Das radioaktive Isotop als Mordwaffe spricht für einen Profikiller mit Zugang zu Atomreaktoren.

Auch im Londoner Büro von Boris Beresowskij, dem früheren Mephisto aller Salonintrigen in der russischen Politik und heutigen Putin-Feind, fanden sich Poloniumspuren. Der Ex-Oligarch im englischen Millionärsasyl war seit Jahren mit Litwinenko verbandelt. Litwinenko schaffte ohne glänzende Schulleistungen und ohne Studium den Aufstieg aus der russischen Provinz in die Zentrale des FSB-Vorgängers KGB. Sein Weg führte den loyalen Geheimdienstsoldaten womöglich zu hoch. Nachdem die Sowjetunion zerbrach, entdeckten viele Agenten die freie Marktwirtschaft für sich. Sie verdingten sich bei Unternehmern und räumten deren Konkurrenz wenn nötig physisch aus dem Weg.

1997 befasste sich Litwinenkos Abteilung gegen die Organisierte Kriminalität nach seinen Worten mit illegalen Strafaktionen gegen unliebsame Unternehmer oder Politiker. Als ihm die Vorgesetzten nach seinen Aussagen den Mord an Beresowskij befahlen, zögerte er. Den russischen Oligarchen kannte er offenbar schon länger. Einmal soll er ihn mit gezückter Waffe gegen Kollegen verteidigt haben. Litwinenko informierte Beresowskij und trat am 19. November 1998 mit fünf Kollegen, die sich hinter Masken und Sonnenbrillen verbargen, in einer Moskauer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit. Sie warfen ihren Vorgesetzten neben dem Mordkomplott die lukrative Entführung von Unternehmern vor.

Der damalige FSB-Chef reagierte zornig und drohte mit einer Klage. Es war Putin. Bald darauf wurde Litwinenko verhaftet und saß wegen angeblicher Preisgabe geheimer Informationen neun Monate im Gefängnis. Dann floh er nach England und erhob schwere Vorwürfe gegen den Kreml. Seine Glaubwürdigkeit litt unter dem Mangel an Beweisen. Litwinenko war zuletzt ein kleiner Fisch, aber hartnäckig. Er spürte auf eigene Faust Informationen über die Zerschlagung des russischen Ölkonzerns Yukos und den Mord an Politkowskaja nach.

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Sein Name bleibt vor allem verbunden mit dem Buch Russland in die Luft jagen. Der Terror aus dem Innern . Darin hatte er Indizien und Mutmaßungen dafür gesammelt, dass der FSB an den vier Explosionen von Mietshäusern in Russland im September 1999 beteiligt gewesen sei. Fast 300 Menschen starben damals. Die Anschläge wurden unverzüglich tschetschenischen Terroristen zugeschoben, die später meist bei Gefechten mit russischen Soldaten umkamen. Nur zwei Kaukasier verurteilte ein Gericht in geheimer Verhandlung zu lebenslanger Haft. Auf der patriotischen Welle, die Russland nach den Bombenanschlägen erfasste, ritt der neue Premierminister Putin zum Tschetschenien-Krieg und zu unschlagbarer Popularität.

Im September 2002 gründeten liberale Parlamentsabgeordnete eine eigene Untersuchungskommission für die undurchsichtigen Verbrechen. Fortan sollten Mord und Tod, Überfall und Staatsverfolgung zu ihren Begleitern gehören. Am 17. April 2003 starb der Parlamentsabgeordnete Sergej Juschenkow vor dem Eingang seines Wohnhauses in der Moskauer Freiheitsstraße durch vier Schüsse in den Rücken. Es war der zweite Mord an einem führenden Politiker der Partei Liberales Russland, die Beresowskij aus seinem Londoner Exil zeitweise finanzierte. Juschenkow galt als integrer Liberaler ohne persönliche Geschäftsinteressen.

Im Juli 2003 kam ein weiteres Gründungsmitglied der Untersuchungskommission ums Leben. Der Journalist und Abgeordnete Jurij Schtschekotschichin war nach Rjasan gefahren, um erneut über den FSB zu recherchieren. Nach seiner Rückkehr nach Moskau erkrankte er und starb ohne exakte Diagnose. Die Behörden sprachen von einer schweren Allergie. Schtschekotschichin war als Kämpfer gegen die Korruption bekannt und leitete als stellvertretender Chefredakteur die Zeitung Nowaja Gaseta, für die auch Anna Politkowskaja schrieb. Vor seinem Tod hatte er eine Artikelserie mit dem Vorwurf der Korruption über den Chef der FSB-Abteilung gegen das Organisierte Verbrechen, Litwinenkos Vorgesetzten, veröffentlicht.

Die Kommission konnte einen Ex-Geheimdienstler und Anwalt, Michail Trepaschkin, als Mitarbeiter gewinnen. Er fand nach eigenen Angaben heraus, dass die Keller der Mietshäuser, in denen der Sprengstoff platziert wurde, von einem FSB-Agenten angemietet worden seien. Dieser Agent starb später bei einem Autounfall auf Zypern. Trepaschkin wurde eine Woche vor seinem Auftritt im Prozess zu den Moskauer Häuserexplosionen, bei dem er dem Gericht seine Untersuchungsergebnisse darlegen wollte, verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis wegen Verrats von Staatsgeheimnissen und illegalen Munitionsbesitzes verurteilt. Die Sicherheitsbehörden in Putins Russland unterliegen keiner gesellschaftlichen Kontrolle mehr.

Und der Zynismus kennt kaum noch Grenzen. Der Nachrichtensprecher des Senders Ren-TV hatte am Mittwoch der vergangenen Woche noch ein finales Argument gegen die mögliche Beteiligung des russischen Geheimdienstes am Fall Litwinenko verkündet: Wenn der FSB Litwinenko vergiftet hätte, wäre er schon längst tot. Zwei Tage später starb er.